„Die Fehlgeburt löste ein Trauma aus“ – über den Grund schwieg Pia lange

Wusstest du, dass eine Fehlgeburt ein Trauma auslösen kann? Ich nicht. Dabei habe ich selbst fünf Fehlgeburten erlebt. Wie viele Frauen tatsächlich betroffen sind, kann nur schwer geschätzt werden, denn die meisten von ihnen reden nicht darüber.

Eine dieser Frauen hat sich mir gegenüber geöffnet. Pia hat mir ihre Geschichte erzählt und darüber berichtet, was ihr Fehlgeburtstrauma ausgelöst hat und warum sie lange schwieg. Das war ein großer Schritt für sie. Aber lies selbst:

Pia: Zuerst bekam ich Rebecca, meine 7-Jährige. Drei Jahre später folgte mein 1. Sternenkind. Ich verlor es in der 8. Schwangerschaftswoche (SSW). Ein Jahr darauf war ich mit Rosalie schwanger. Sie starb in der 16. SSW. Die Fehlgeburt löste ein Trauma aus. Und letztes Jahr durfte ich Rabea lebend zur Welt bringen.

Stefanie: Deine Verluste tun mir unglaublich leid. Ich freue mich aber, dass du heute mit mir darüber sprichst, vor allem über dein Fehlgeburtstrauma. Das muss schwer für dich sein, oder!?

Pia: Ja, sehr. Ich habe noch nie wirklich darüber gesprochen.

Stefanie: Dann atme einmal tief durch und fange einfach dort an, wo du möchtest und kannst.

Pia: Nach der sehr spontanen Schwangerschaft und Fehlgeburt bei meinem ersten Sternchen lief es bei Rosalie ganz anders. Alles war geplant: Ich nutzte Ovulationstests und wir hatten Sex nach einer vorberechneten Kurve. Ich weiß, das klingt nicht wirklich romantisch, doch es hat direkt geklappt.

Bis zur 12. Woche war auch alles gut. Die Frauenärztin hat nie etwas von Auffälligkeiten gesagt. In der 13. SSW ließ ich auf eigenen Wunsch eine Feindiagnostik mittels Ersttrimester-Screening machen, da mein Neffe Ben wegen eines Herzfehlers wenige Tage nach der Geburt starb. Ich wollte einfach auf Nummer sicher gehen.

Stefanie:

Was kam im Feindiagnostik-Screening heraus?

Pia: Nichts Gutes. Das Screening fand unter Corona-Bedingungen statt. D.h., mein Mann durfte nicht mit ins Untersuchungszimmer, nur falls es Auffälligkeiten gäbe. Der Arzt schallte lange. Für mein Empfinden sehr lange. Aber er sagte nicht viel, außer zwischendurch immer mal in Ordnung, wenn er über bestimmte Messwerte sprach. Ich ging also davon aus, dass alles okay ist.

Dann, wie aus dem Nichts, sagte er: „Wir holen mal Ihren Mann dazu.“ Da die Kita geschlossen war, war auch Rebecca dabei. An sich ja nicht schlimm, doch der Arzt erzählte plötzlich nur vom Tod und Sterben. Das war so schlimm!

Stefanie: Oh je, und das alles vor deiner Tochter. Unter normalen Umständen hätten sich wahrscheinlich die Schwestern um Rebecca kümmern können. Wie begründete er denn seine Befürchtungen?

Pia: Der Arzt meinte, dass Rosalie äußerst viel Wasser angesammelt hat, zu klein wäre und was am Herzen hätte. Das Verhalten des Arztes war unterirdisch. Daher bin am nächsten Tag noch mal zu meiner Frauenärztin gegangen. Und auch sie sah die Wassereinlagerungen, die sie 2 Wochen vorher noch nicht gesehen hatte.

Stefanie: Das ist ja merkwürdig. Das kann doch nicht so schnell entstehen, oder?

Pia: Mir kam das auch komisch vor. Deswegen bin noch in derselben Woche ins Kreiskrankenhaus gefahren, um mir eine 2. Meinung einzuholen. Die Ärztin hat leider alles bestätigt. Allerdings in einer sehr empathischen und einfühlsamen Art. Eine Entscheidung über Leben und Tod hätte ich dennoch nicht fällen können.

Stefanie: Kennst du denn den Grund für die Diagnose?

Pia: Ja, in etwa schon. Die Ärztin meinte, dass eine Herzscheidewand bei Rosalie nicht ganz entwickelt war oder komplett fehlte. Das konnte sie zu dem Zeitpunkt nicht bestätigen. Man hätte es theoretisch ab der 24. SSW in meinem Bauch operieren können. Doch Rosalie entschied sich schon vorher gegen das Leben. Bei einer der wöchentlichen Untersuchungen im Krankenhaus, ein Donnerstag, wurde mir gesagt, dass ihr Herzchen nicht mehr schlägt.

Stefanie: Oh wow, wie ging es dir in dem Moment?

Pia: Es war wie im Film. Komplett surreal. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun musste oder wie es weitergehen soll. Ich schaltete gedanklich ab und funktionierte irgendwie.

Stefanie:

Warst du allein, als du von Rosalies Tod erfahren hast?

Es waren so viele Infos, dass es mich überforderte. Ich weiß, sie meinte es nur gut, aber ich war so überwältigt von der Trauer und konnte das alles gar nicht aufnehmen.

Stefanie: Das kann ich mir vorstellen. Das ist ja auch eine Extremsituation.

Wie hast du Rosalie dann geboren?

Pia: Das ist eine längere, leider nicht so schöne Geschichte, die ich so bisher nur einer Vertrauensperson erzählt habe. Dennoch muss ich es endlich auch laut erzählen. Ich will nicht mehr schweigen.

Stefanie: Nimm dir Zeit und lege gern ein Taschentuch bereit.

Pia: Also,… ich wollte Rosalie selbst zur Welt bringen, sie sehen und sie in den Arm nehmen. Doch nicht direkt nach der Diagnose. Die Ärztin bot mir zwar einen Termin zur Einleitung am nächsten Tag an, aber den lehnte ich ab.

Ich brauchte Zeit, um das zu verstehen und ein paar Fragen zu klären. Ich rief deswegen meine Freundin, die Pastorin ist, noch am selben Tag an. Auch mit der Dame im Beerdigungshaus sprach ich. Ich wollte im Vorfeld alles geklärt haben, um mich leichter auf Rosalies Geburt vorbereiten zu können.

Am Freitag bekam ich eine Vortablette im Krankenhaus, füllte noch die restlichen Unterlagen aus, ging danach allerdings wieder nach Hause.

Stefanie: Das muss alles sehr anstrengend gewesen!?

Pia: Ja, das war es. Und noch anstrengender, vor allem emotional, wurde es, als wir am Samstag wieder in die Klinik kamen. Ich wurde untersucht, was wohl zum normalen Ablauf gehörte. Dafür musste ich am Kreissaal vorbeigehen. Dort sah ich die hochschwangeren Frauen sitzen. Und als ob das nicht genug wäre, musste ich nach dem Klingeln die Frage „Warum kommen sie?“ beantworten. Ich brach in Tränen aus.

Ich wusste nicht so recht, was ich sagen soll, denn auf der einen Seite kämpfte ich mit meiner Trauer und auf der anderen Seite wollte ich nicht vor den Schwangeren erzählen, dass ich mit totem Baby im Bauch hier bin. Ich wollte ihnen ja keine Angst machen.

Stefanie: Das verstehe ich gut. Und was hast du geantwortet?

Pia: Na ja, ich musste es dann doch sagen, da der Schwester keinerlei Infos vorlagen. Alle bereits ausgefüllten Bögen waren weg. Wir mussten sie alle ein weiteres Mal ausfüllen und ich musste alles erneut erzählen. Ich dachte, das wäre das Schlimmste, was passieren kann, aber es wurde noch schlimmer.

Stefanie: Was? Noch schlimmer?

Pia: Ja! Gegen Mittag, als wir endlich mit den Bögen fertig waren, begann die Einleitung mit Cytotec. Ich hatte unnormal schlimme Schmerzen nach der Einnahme. Dabei bin ich nicht schmerzempfindlich. Meine beiden lebenden Kinder brachte ich ohne Schmerzmittel zur Welt.

Stefanie: Oh man, das tut mir leid. Hat die Tablette denn wenigstens gewirkt?

Pia: Nein, außer den Schmerzen rührte sich nichts. Sechs Stunden später erhielt ich eine weitere Gabe Cytotec. Wieder nur brutale Schmerzen und sonst nichts. Gegen 17 Uhr fand endlich eine Untersuchung statt. Die Ärztin sah keinerlei Fortschritte und meinte, mein Mann kann erst einmal heimfahren. Das würde noch dauern. Ich bat ihn jedoch noch etwas zu bleiben.

Als das Essen hereingebracht wurde, musste ich einen Moment innehalten. Hunger hatte ich eigentlich nicht, aber ich aß etwas. Ich dachte nur: „Wer weiß, was noch kommt. Ich muss Kraft tanken.“

Stefanie: Das war bestimmt eine gute Entscheidung. In diesen Geburtssituationen essen wir Frauen immer viel zu wenig.

Pia: Das stimmt wohl. Eine noch bessere Entscheidung war es, meinen Mann noch nicht gehen zu lassen. Noch während des Essens, um kurz vor 18 Uhr, bekam ich einen erneuten Schub an Schmerzen. Ich rief die Schwester. Sie schaute unter die Decke und sagte nur: „SCHEIßE“. Meine Rosalie war vermutlich schon da! Genau weiß ich das gar nicht. Ich habe ja nicht geschaut.

Stefanie: Ach krass! Und dann?

Pia: Ich wurde samt Bett in ein Kreissaal-Zimmer gebracht und dort umgebettet. Dort wurde Rosalie von einer sehr jungen Schwester abgenabelt. Und dann geschah etwas, dass ich nie vergessen werde:

Sie nahm Rosalie in die Hand und warf sie in einen Pappkarton. Ich stand auf, folgte ihr auf den Gang und fragte, wo sie mit meinem Kind hinwill. Dann brach‘ ich zusammen. Ich hatte einen Blackout!

Stefanie: Um Himmels Willen. Das darf nicht sein! Diese Situation hat sicherlich tiefe Wunden in dir hinterlassen.

Pia:

„Ich erlitt ein Fehlgeburtstrauma dadurch„

Ich versuche immer wieder, die Erinnerungen an diese Situation zu verdrängen, doch sie holt mich permanent ein. Deswegen zwinge ich mich nun endlich, dir davon zu erzählen.

Stefanie: Auch wenn es ein unfassbar furchtbares Erlebnis war:

Warum hast du nicht früher über dein Trauma nach der Fehlgeburt gesprochen?

Pia: Na ja, ich hatte ja mit meiner Therapeutin über das Erlebte gesprochen und dann zu Beginn der Folgeschwangerschaft erneut. Meine Therapeutin glaubte mir, aber die Ärztin im Krankenhaus nahm es nicht ernst. Daher hatte ich Angst, mir würde niemand glauben, und schob es stets von mir weg.

Stefanie: Ich glaube dir und viele andere Betroffene sicherlich auch. Ich bin froh, dass du dich getraut hast, es zu erzählen. Es sollte deine Seele etwas erleichtern. Hat sich in der Klinik jemand für dich stark gemacht?

Konntest du Rosalie nach der Fehlgeburt noch sehen?

Pia: Ja, zum Glück. Als ich nach der Ausschabung wieder zu mir kam, war die Pastorin da und hielt Rosalie in einer Spuckschale. Ich freute mich natürlich, dennoch wurde ich des schönen ersten Moments mit meinem Kind beraubt. Mir wurde mein Baby nicht auf die Brust gelegt. Und auch in der Spuckschale lag sie nackt. Nicht in einer Einschlagdecke, wie ich es mir gewünscht hatte. Hätte ich das gewusst, hätte ich selbst eine Einschlagdecke mitgebracht.

Stefanie: Ach stimmt, du nähst für Frühchen und Sternenkinder. Zu diesem Zeitpunkt auch schon?

Pia: Ja. Ich nähe bereits seit 2016 für Sternenkinder. Anfangs nähte ich bei den Wolfsburger Elfen, inzwischen direkt für Sterneneltern und Krankenhäuser.

Stefanie: Wo und wie erfährt man, dass du Frühchen- und Sternenkinder-Kleidung nähst?

Pia: Einige finden mich auf meinem Instagram-Kanal Pias Handgemenge. Doch der Großteil läuft über Mundpropaganda. Die Notfall-Seelsorgerin im Krankenhaus und andere Sterneneltern empfehlen mich weiter.

Stefanie: Ich finde dein Engagement großartig, denn auch mein Sohn bekam keine Kleidung im Krankenhaus. Zum Glück war er bei der Geburt 50cm groß, sodass ich einfach nur in den vorbereiteten Kleiderschrank zu Hause greifen musste. Was treibt dich dazu an, für Sternenkinder zu nähen?

Pia: Seit den furchtbaren Erlebnissen meiner Schwester und mir will ich, dass kein Kind nackig sein muss. Egal wie groß und alt. Ich nähe für jede Größe. Auch Einschlagdecken, wenn das Sternenkind ganz klein ist.

Die Sternchen sollen würdevoll behandelt werden. Deswegen tat es mir unheimlich weh, wie mit Rosalie umgegangen wurde.

Stefanie: Ich merke dir deinen Schmerz an und verstehe gut, dass sich ein Trauma daraus entwickelt hat.

Arbeitest du mit deinem eigenen Engagement dein Fehlgeburtstrauma auf?

Pia: Ja, ich glaube, ich arbeite es tatsächlich dadurch auf. Zumindest fühlt es sich so an.

Stefanie: Woran machst du das fest?

Pia: Ich weine manchmal, wenn ich nähe. Immer noch. Richtig schlimm war es, als ich ca. einen Monat nach der Geburt von Rabea einen Anruf bekam und gefragt wurde, ob ich helfen kann. Zu dem Zeitpunkt hatte ich Corona. Mir ging es nicht gut. Daher sagte ich spontan NEIN.

Hinterher tat es mir leid und ich stellte mir vor, dass die verstorbenen Zwillinge dieser Sternenmutti nichts zum Anziehen hatten. Also rief ich zurück und sagte zu. Das war die erste Kleidung, die ich für ein Sternenelternpaar nähte.

Ich habe durchweg geweint und gemerkt, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch ganz am Anfang meines eigenen Trauerprozesses stand. Davor habe ich ja immer alles verdrängt. Mit dem Nähen stellte ich mich meiner eigenen Trauer. So machte ich zumindest einen Anfang.

Stefanie: Fühlt es sich anders an, wenn du Sachen nur im Krankenhaus abgibst anstatt bei Sterneneltern?

Pia: Oh ja, da ist diese Distanz zwischen den Eltern und mir. Obwohl ich weiß, dass es dort gut ankommt, sehe ich die Eltern nicht. Das passt gut zu mir, denn ich verdränge ja gern. Dennoch zwinge ich mich mit dieser Arbeit, meine eigenen Gefühle ein bisschen zuzulassen. Aber eben nicht zu krass, solange ich die Geschichte dahinter nicht kenne. Außerdem erhoffe ich mir, damit etwas Aufklärungsarbeit in den Krankenhäusern zu leisten. Eben damit es würdevoller für Sterneneltern und -kinder wird.

Stefanie: Diese Botschaft kommt bestimmt an. Hoffentlich! Hilfst du Sterneneltern noch auf anderen Wegen?

Stefanie: Das hört sich sehr zeitintensiv an. Wie viele Stunden verbringst du für deine ehrenamtliche Aktivitäten?

Pia: Das weiß ich gar nicht genau. Es ist aber meine Beschäftigung in der Elternzeit. Ich möchte die Zeit zu Hause sinnvoll nutzen.

Stefanie: Das ist sehr bewundernswert. Und letztlich hilft es dir ebenso mit deiner eigenen Trauerbewältigung. Gibt es ein weiteres Ritual, bei dem du deine Trauer zulässt?

Pia: Ja. Es ist eigentlich nichts Besonders, entstand allerdings während der Schwangerschaft mit Rabea. Damals bin ich nur ganz selten auf den Friedhof gegangen. Aus Angst. Daher zündete ich täglich eine Kerze zu Hause an. Dieses tägliche Ritual ist seither geblieben.

Stefanie: Ja, diese Angst kenne ich. Wer hat denn das Grab in dieser Zeit gepflegt?

Stefanie: Vielleicht hat er seine eigene Trauer durch die Grabpflege verarbeitet. Trauer ist eben sehr individuell. Gibt es noch etwas, dass du den Lesern mit auf den Weg geben möchtest?

Pia: Ja, sehr gern sogar. Mir ist es wichtig, dass Betroffene wissen, dass sie NICHT Schuld sind. Alles, was passiert, kann nicht selbst gesteuert werden. Man sollte Hilfe annehmen oder es zumindest versuchen. Entweder in Form einer Selbsthilfegruppe oder online wie in der Sternenband-Austausch-Gruppe auf Facebook. Gemeinsam schafft man es schneller, aus den Tälern und Löchern der Trauer herauszukommen.

Ich mache solange weiter, bis mit kleinen und stillen Geburten würdevoll umgegangen wird.

Stefanie: Liebe Pia, ich danke dir vielmals, dass du mir deine Geschichte erzählt hast und freue mich, dass es dir hilft, nun endlich darüber zu sprechen. Die Selbsthilfegruppe wird dich neben dem Nähen weiterhin bei deiner Trauerverarbeitung unterstützen. Schließlich hilft Helfen tatsächlich. Diese Erfahrung durfte ich ja ebenfalls machen. Daher bin ich mir ganz sicher, dass es dir helfen wird. Besser etwas später als nie!

Möchtest du Pia auch ein paar liebe Worte dalassen? Schreibe es gern unten in die Kommentare. 👇