„Lass die Trauer zu“ – das sagte einst eine Hebamme im Krankenhaus zu mir.
4 Worte, die mehr nebenbei als bewusst gesagt wurden und doch mein Innerstes berührten.
4 Worte, die mich nicht mehr losließen.
4 Worte, die zu meinem inneren Kompass wurden.
4 Worte, die mich einen Raum betreten ließen, in dem ich bis dahin nicht war.
Ich sehe die Hebamme noch heute vor mir stehen. Verschwommen. Ganz weit weg. Doch ich weiß noch genau, wie es sich anfühlte, diese 4 Worte zu hören: als hätte jemand eine Mauer in mir zum Bröckeln gebracht.
In welcher Situation sie mir riet, die Trauer zuzulassen, warum sie so bedeutsam für mich wurden und welche Auswirkungen sie bis heute haben – das erzähle ich dir in diesem Artikel.
Die Idee zu diesem Beitrag stammt von Sylvia Tornau, die zur Blogparade „Ein Satz, der mich trägt“ aufrief. Hüpf‘ später gern rüber, um über weitere inspirierende Sätze und ihre Wirkung zu lesen.
Vorher: das Schweigen und die stille Trauer
Trauer zulassen, das ist es etwas Intuitives.
Das weiß ich heute, denn ich habe gesehen, wie meine Kinder mit Verlustsituationen umgingen. Sei es die runtergefallene Kugel Eis, der verlorene Plüschbar oder der Verlust eines Familienmitglieds.
Über den Verlust einer Eiskugel oder eines Teddybären dürfen wir im Außen traurig sein, zumindest meistens.
Der Tod eines Menschen wird in unserer Gesellschaft jedoch lieber verschwiegen.
So lernte ich es als Kind.
Aus diesem Grund habe ich lange nicht gewusst, dass und vor allem wie ich die Trauer zulassen kann.
Dabei gab es mehrere Todesfälle, unter anderem der frühe Tod meines Vaters sowie 5 kleine MINI-MEs, die ich aufgrund von Fehlgeburten nie kennengelernt habe.
In jeder dieser Situationen war sie da, die Trauer.
Ich habe ihr nur nie den Raum gegeben, den sie verdient hatte.
Mein Vater starb kurz vor einem Auslandsaufenthalt.
Ich war gerade dabei, einen Teil meines Lebens hinter mir zu lassen und einen neuen Teil zu beginnen. In eben dieser kurzen Übergangszeit starb er. Ohne Vorwarnung!
👉 Hier erfährst du, wie ich mich in dieser Situation fühlte und wie ich die Angst vorm (eigenen) Tod überwand.
Da mein Leben weitergehen musste und der neue Job im Ausland zugesagt und unterschrieben war, schwieg ich und trauerte still.
Was wusste ich denn, wie man im Ausland trauert, wenn ich es schon in der Heimat nicht nach außen zeigen konnte.
Einige Jahre später folgten auf den Kinderwunsch meine ersten Fehlgeburten.
Ich fühlte nichts als Leere und Scham.
Es waren frühe Verluste, alle im ersten Trimester, kaum jemand wusste davon.
Und ich tat alles, damit es auch so blieb.
Nicht, weil ich kaltherzig war.
Sondern weil ich glaubte, dass man mich für unfähig halten würde, Kinder zu bekommen. Unfähig zu „funktionieren“.
Schließlich funktionierte ich immer!
Schwäche zeigen, das war keine Option für mich!
Tränen in der Öffentlichkeit? Undenkbar.
Die Trauer zu verdrängen, das war ebenfalls keine Option für mich.
Also schwieg ich wieder, trauerte jedoch still.
Mein Mann übrigens auch. Wir hielten die Trauer wie ein Geheimnis in unserer Wohnung gefangen – draußen war sie tabu.
Ich hatte nie gelernt, meine Trauer zuzulassen, sie auszuleben oder sie zu integrieren, sondern überging sie.
Die Trauer blieb Zuhause versteckt und war dennoch wie ein Schatten, der mir überall hin folgte. Unsichtbar.
Doch jede:r Trauererprobte weiß: Trauer geht nicht weg. Sie bleibt im Körper, im Herzen, in den Gedanken. Und irgendwann taucht die Frage auf: Wohin mit der Trauer, wenn sie nie Platz bekommen hat?
Der Wendepunkt: Dominiks Tod
Als mein Sohn Dominik starb, war kein Verstecken mehr möglich.
Kein „Weiterfunktionieren“.
Kein inneres Wegschieben.
Nur Schmerz, Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Mal laut, mal ganz still, aber immer allgegenwärtig.
Ich erinnere mich an den zweiten Morgen nach Dominiks Tod.
Vollkommen übermüdet waren mein Mann und ich auf dem Weg zur Klinik-Psychologin.
Als wir aus dem Fahrstuhl stiegen, sah uns die Hebamme, die mir vor einigen Tagen meine Entlassungspapiere übergeben und noch Mut zugesprochen hatte.
Sie umarmte uns nacheinander, sagte nicht viel, sondern hörte uns zu.
Die Hebamme war sichtlich berührt von unserem Schicksal, schaute mich mit Tränen in den Augen an und sagte schließlich diesen einen Satz:
„Lass die Trauer zu.“
Dieser Moment fühlte sich wie ein Stich ins Herz an.
Nicht grob. Nicht mit Gewalt. Sondern ganz sanft.
Es war eine Erlaubnis und eine Erleuchtung zugleich.
Ich weiß noch, wie still alles um mich wurde.
Die Hebamme sprach weiter.
Doch nur dieser eine Satz blieb: Lass die Trauer zu.
Und plötzlich war da dieser Gedanke:
Vielleicht darf ich das wirklich. Vielleicht muss ich das sogar.
Denn ich hatte bereits gemerkt, dass ich die Trauer nicht länger verstecken konnte.
Ich konnte die Trauer nicht mehr nicht zulassen.
Und ich wollte es auch nicht mehr.
Aber wie lässt man Trauer zu?
Einen Plan erstellen, mit Zwischenschritten zum Abarbeiten – so wie ich Dinge normalerweise angehe –, das war nicht möglich. Ich war in Trauer, in akuter Trauer.
„Lass die Trauer zu“ – immer wieder dachte ich an diesen Satz und fing an zu weinen. Überall dort, wo ich war. Ich sagte mir:
„Wenn einer in der Öffentlichkeit weinen darf, dann ich“.
Die ersten Wochen vergingen und ich bekam eine leise Ahnung davon, wie heilsam es sein könnte, den Weg weiterzuverfolgen, den ich eingeschlagen hatte: ich lernte, meine Trauer zuzulassen.
Das fühlte sich gut an!
Nachher: Wer Trauer zulässt, wird sichtbar
Dieser kurze Satz, diese 4 kleinen Worte – sie änderten alles.
Nicht sofort.
Aber Schritt für Schritt.
Ich begann, das zu tun, was ich mir zuvor nie erlaubt hatte: Ich ließ die Trauer zu.
Nicht nur zu Hause.
Nicht nur in stillen Momenten.
Sondern dort, wo sie kam.
Im Supermarkt. In der Turngruppe. Vor dem Kindergarten.
Manchmal rollten die Tränen einfach – morgens, mittags und auch abends.
Eben mitten im Alltag.
Anfangs fühlte es sich noch nach Kontrollverlust an. Doch es war keiner.
Es war Freiheit, weil ich die Trauer wahrhaftig zuließ.
Zum ersten Mal lebte ich mit der Trauer, statt sie zu verstecken oder gegen sie zu kämpfen.
Ich merkte, dass Trauer zulassen nicht bedeutet, schwach zu sein – sondern ehrlich.
Ehrlich mit mir selbst. Ehrlich mit der Welt.
Und plötzlich geschah etwas Unerwartetes:
Menschen öffneten sich.
Sprachen mich an.
Teilten ihre Geschichten. Ihre Verluste. Ihre Tränen.
In dem Moment, in dem ich mich sichtbar machte, wurden auch andere sichtbar.
„Unsere Sichtbarkeit schaffte Verbindung. Und Verbindung heilt.“
Das war eine Erkenntnis, die mein Leben nachhaltig prägte.
So lange hatte ich nicht gewusst, wie man Trauer zulässt.
Und mit einem Mal – nach Dominiks Tod und vor allem nach diesen 4 Worten – lernte ich es Stück für Stück.
Mit jedem Tag, mit jeder Begegnung, mit jeder Träne ein bisschen mehr.
So wurde mein Herz auch Stück für Stück leichter.
Es war, als hätte mir dieser eine Satz den Mut geschenkt, mir selbst zu begegnen.
Nicht als die, die funktioniert, sondern als die, die fühlt.
Und wenn man wirklich fühlt, kann man auch mit der Trauer leben – nicht trotz ihr, sondern mit ihr.
Diese Trauergefühle können sich in unterschiedlicher Form zeigen.
Die einen stricken Kleidung für Sternenkinder und vergießen dabei Tränen, andere lassen ihrer Trauer beim Malen, Singen oder Tanzen freien Lauf.
Ich probierte einiges im ersten Trauerjahr aus und fand diese beiden Strategien für mich am hilfreichsten:
- Schreiben, schreiben, schreiben – ob Briefe an meinen Sohn, Beiträge in Foren oder mein Trauertagebuch, was später die Grundlage für mein Sternenkind-Buch war
- Reden und sich austauschen mit anderen Sternenkind-Mamas, z.B. mit den Frauen der Leere Wiege-Gruppe (ein Rückbildungskurs für Mütter nach Verlust ihres Kindes) – reden, ohne sich rechtfertigen zu müssen; sich nicht allein fühlen und auch ohne Worte verstanden zu werden, aber ebenso zusammen lachen und weinen, ohne dass es unangenehm ist
Warum mich dieser Satz weiterträgt
„Lass du Trauer zu“ – der Satz ist in meinem Herz geblieben. Nicht als Wunde – sondern als Anker.
„Manchmal braucht es nur vier Worte, um ein ganzes Leben zu verändern.“
Dieser Satz trägt mich durch dunkle Tage, durch leise Erinnerungen und durch neue Verluste (ob Verluste von Familienangehörigen in den letzten Jahren oder meinen plötzlichen Jobverlust), die das Leben immer wieder bereithält.
Ich habe gelernt, dass es keine Schwäche ist, traurig zu sein und es auch zu zeigen.
Ich habe gespürt, dass es kein Zurückhalten braucht, kein Funktionieren-Müssen.
Und ich habe erlebt, dass Stärke manchmal genau dort beginnt, wo man sich erlaubt, man selbst zu sein.
Tut das weh? Ja!
Allerdings nicht so lange, als wenn man seine Trauer nicht verarbeitet.
Sie sucht sich ihren Weg. Ganz gewiss. Irgendwann, irgendwie.
„Trauer geht nicht weg. Aber sie verändert sich, wenn wir ihr Raum geben.“
Es ist daher wichtig, sich nach einem Verlust zu fragen: Wohin mit meiner Trauer?
Probiere lieber zu viel als zu wenig, um eine für dich geeignete Strategie zu finden.
👉 Wenn du meine Strategien des Schreibens und Redens in einer Gruppe schon ausprobiert hast, dir beides nicht liegt oder du etwas anderes versuchen möchtest, findest du weitere Möglichkeiten der Trauerbewältigung um ein Kind hier.
Ich werde diesen Satz, diese 4 Worte, mein Leben lang weitergeben und auf aktive Trauerarbeit hinweisen, weil ich weiß, wie viele Menschen noch immer glauben, dass sie ihre Trauer nicht zulassen dürfen.
Oder weil sie glauben, sie nicht zulassen zu können.
Ich will zeigen, dass es möglich ist.
Ich will zeigen, dass wir es lernen können, Trauer zuzulassen.
Denn genau das – dieses Zulassen – ist oftmals der erste Schritt der Heilung.
„Der Schmerz um den Verlust meines Sohnes Dominik wurde nicht weniger – aber ich wurde stärker im Umgang mit ihm.“
Meine heutigen Gedanken zum Thema „Trauer zulassen“
Lass die Trauer zu!
Versteck sie nicht.
Drück sie nicht weg.
Du musst nicht warten, bis du stark genug bist.
Du darfst traurig sein.
Jetzt. Hier. Genau so, wie du bist.
Vielleicht fragst du dich, wie man Trauer zulassen kann, wenn sie so übermächtig erscheint.
Oder wenn du glaubst, dass du es nicht kannst.
Dann fang klein an. Mit einem Gedanken. Einer Träne. Einem Moment der Ehrlichkeit.
Ich wünsche dir den Mut, deine Trauer zu leben – nicht für andere, sondern für dich!
Denn du musst mit der Trauer leben – also gib ihr einen Platz in deinem Leben, der dich nicht zerstört, sondern trägt.
Und jetzt du:
- Gab es Zeiten in deinem Leben, in der du deine Trauer ebenfalls versteckt hast?
- Was hat dir geholfen, deine Trauer zuzulassen?
- Was hat dich durch die Trauer getragen?
Erzähl es mir gern in den Kommentaren. 😊