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„Lara muss sterben“, sagte sie zu ihrer Großen

„Lara muss sterben“, sagte Stephanie zu ihrer großen Tochter. Sie wählte diese Worte mit Bedacht, denn sie wollte nichts verheimlichen und ihr endlich erklären, warum ihre Eltern so traurig waren.

Wenn ein Kind gesund zur Welt kommt, geht man nicht davon aus, dass es bald sterben muss. Auf diese Situation kann man sich nicht vorbereiten. Schließlich hat man ein kleines Wunder geschenkt bekommen, dass all die Hürden der Schwangerschaft und der Geburt ohne Probleme gemeistert hat.

Das Risiko eines Kindstods, wenn das Kind bereits gesund und munter im trauten Heim angekommen ist, ist sehr gering und doch ist es ein reales Risiko. Stephanie und ihre Familie hat genau dieses Schicksal getroffen. Das ist ihre Geschichte.

Mit Lara waren wir komplett

Mein Name ist Stephanie und ich bin Mama von 2 Kindern. Meine große Tochter wurde 2018 geboren und meine kleine Tochter 2021. Was uns in dem darauffolgenden Jahr erwarten würde, darauf waren wir nicht vorbereitet. Denn nun bin ich eine Sternenmama.

Es begann im April 2021. Wir waren sehr glücklich darüber, dass es nochmal geklappt hatte und unser 2. Wunder unterwegs war. Gegen Ende der Schwangerschaft fiel plötzlich auf, dass ich zu viel Fruchtwasser hatte. Zuckertest und TORCH-Test (ein Bluttest, der auf Infektionen untersucht) waren jedoch unauffällig.

Am 27.11.2021 kam unsere Lara dann spontan zur Welt. Zwar 2 Wochen vor dem Termin, aber sie war gesund. Also konnten wir wie geplant nach ein paar Stunden das Krankenhaus verlassen.

Lara wurde immer schläfriger

Lara war ein super Schlafkind. Jedoch wurde ihr Trinkverhalten immer bedenklicher und sie immer schläfriger. Bei der U2 fiel eine niedrige Herzfrequenz auf. Wir mussten stationär im Krankenhaus bleiben. Sie hatte immer wieder Sättigungsabfälle, brauchte Infusionen und schließlich auch die Wärmelampe. Nach 5 Tagen durfte sie dann entlassen werden.

Bei einer erneuten stationären Aufnahme im April wurde eine Blasenentzündung festgestellt. Sie bekam Antibiotikum und nochmal Infusion. Die Trinkschwäche käme von der Blasenentzündung, so die Vermutung der Ärzte.

Plötzlicher Wettlauf gegen die Zeit

Drei Wochen später hatte sie jedoch immer noch ihr Entlassungsgewicht. Ich drängte bei der Kinderärztin auf eine kalorienreiche Spezialnahrung, damit sie endlich einmal zunimmt. Diese erbrach sie im hohen Bogen und die normale Milch wollte sie auch nicht mehr trinken. Als dann noch die Windeln trocken blieben, ging es wieder ins Krankenhaus.

Dort stellte sich heraus, dass sie den Adenovirus hatte und deswegen erbrach, inzwischen auch blutig. Die Blasenentzündung war auch wieder da. Die Leberwerte wurden plötzlich schlecht und sie wurde in ein anderes Krankenhaus verlegt – auf die Intensivstation (kurz: ITS).

Dort bekam sie einen zentralen Venenkatheter gelegt. Ihr Zustand war nicht gut. Sie wurde über Infusion ernährt und bekam gar keine Milch mehr. Es wurde erneut der Stoffwechsel untersucht und zeitgleich auch die Genetik. Alles parallel, da uns die Zeit davonlief.

Die schlimmste Woche meines Lebens

An meinem Geburtstag, es war ein Dienstag, fragte ich den Chefarzt, ob wir uns darauf einstellen müssen, dass sie es nicht schafft. Er war sehr ehrlich und sprach von nicht behandelbaren Stoffwechselerkrankungen, Ergebnisse abwarten und einer lebensbedrohlichen Situation. Ich bin ihm sehr dankbar für seine Ehrlichkeit. So wurde mir nochmal deutlich, dass nicht nur ich so empfand. Auch die Ärzte machten sich Sorgen. Und während ich auf der ITS bei meinem Kind saß und um ihr Leben bangte, gratulierte mir jeder zum Geburtstag. Ich fragte mich bei jeder Nachricht, ob wir im nächsten Jahr noch zu viert sein würden.

Am Mittwoch waren dann erste Ergebnisse da. Die behandelnde Ärztin erklärte mir, dass die Werte auffällig wären. Sie würden für eine Stoffwechselerkrankung sprechen, welche die Mitochondrien betrifft. Dies ist der Energiestoffwechsel und nicht behandelbar. Die Genetik war bereits dabei, das zu untersuchen. Die Ärztin konnte mir allerdings nicht versprechen, dass Lara es bis zum Ergebnis schaffen würde.

Nun, da ich wusste, dass meine Tochter das alles nicht überleben wird, war es noch viel schlimmer bei ihr zu sitzen. Es ertragen zu müssen, nichts tun zu können. Und doch hatte ich immer noch die Hoffnung auf ein Wunder. Die Hoffnung, dass sie noch etwas anderes finden und alles gut werden würde.

Schafft es Lara doch?

Inzwischen hatte sie ein großes Bett. Wir konnten viel kuscheln. Ich lag oft bei ihr und sagte ihr, dass sie so toll gekämpft hat und bitte weiterkämpfen soll. Ich glaubte und hoffte, dass sie so stark ist und das schafft. Wir hatten doch schon so viel geschafft.

Aber ich spürte, während ich mit ihr sprach, dass sie das alles nicht mehr wollte. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie wollte sterben.

Am Freitag betrat ein neuer Arzt das Zimmer, in Begleitung einer Schwester. Er hatte einen sehr ernsten Gesichtsausdruck und wählte seine Worte ruhig und bedacht. Ich ahnte, jetzt kommt nichts Gutes.

Ich erfuhr, dass sich ihr Zustand sehr verschlechtert hatte. Alle Maßnahmen, die sie ergreifen könnten, würden ihr nicht mehr helfen. Sie würden nur ihr Leid verlängern.

Schmerzhafte Gewissheit

Das, was ich schon lange fühlte, war ausgesprochen. Sie würde bald sterben. Auf meine Nachfrage gab er ihr noch 1-2 Wochen. Wir sprachen über unsere Optionen:

  • im Krankenhaus bleiben
  • ins Hospiz
  • oder mit palliativer Begleitung zuhause.

Der Arzt und die Schwester verließen das Krankenzimmer.

Ich ließ mich zu ihr ins Bett fallen, sprach wieder mit ihr und musste weinen. Es schnürte mir die Kehle zu. Ich brauchte frische Luft! Ich entschuldigte mich bei Lara, dass ich gehen muss, und versprach, bald wiederzukommen.

„Lara muss sterben“

Am nächsten Morgen erzählte ich unserer Großen, dass ihre kleine Lara nicht mehr gesund wird und sie sterben muss. Ich versuchte, ihr so gut wie möglich zu verdeutlichen, was das bedeutet. Doch wie erklärt man so etwas einer 4-jährigen?

Ich begann mit dem Offensichtlichen und sagte, dass es ihr sehr schlecht ging. Dass Lara schlecht trank und viel spucken musste, hatte sie ja miterlebt. Meine Große wusste auch, weswegen ihre Mama mit Lara weggefahren war.

Dann erklärte ich ihr, dass Lara so schlimm krank war, dass auch die Ärzte sie nicht gesund machen können.

Ich sagte ihr wortwörtlich: „Lara muss sterben.“

Ich wählte diese Worte ganz bewusst. Man möchte es nicht so hart formulieren, weil man dem Kind keine Angst machen und es nicht belasten möchte. Doch sie musste wissen, was sie erwartet. Und sie hatte ein Recht darauf, dass sie nicht ausgeschlossen wird. Sie musste endlich erfahren, warum es Mama und Papa nicht gut ging und was los war.

Ich sprach bewusst nicht vom „einschlafen“. Denn sie sollte keine Angst vor dem Einschlafen bekommen. Außerdem war es kein Einschlafen. Lara würde nicht wieder aufwachen.

Was bedeutet sterben?

Nun gab es noch keinen Todesfall in der Familie, den unsere Tochter bewusst miterlebt hatte. Also versuchte ich, ihr kindgerecht zu erklären, was sterben bedeutet.

Ich verglich es mit einer Blume. Eine Blume, die verwelkt. Sie hängt erst das Köpfchen und wird immer schwächer und irgendwann ist sie ganz verwelkt. Dann ist sie tot. Auch Lara war schwach und hatte keine Kraft. Sie würde immer schwächer werden und dann ebenfalls sterben – wie diese Blume.

Es war schwer, das Unbegreifliche zu erklären. In dieser Ausnahmesituation diesem 4-jährigen Mädchen schonend, aber direkt beizubringen, dass es seine Schwester verlieren würde. Die Schwester, die es über alles liebte, aber schon drei Wochen nicht gesehen hatte. Und doch fand ich irgendwie die richtigen Worte.

Lara soll zu Hause sterben

Am nächsten Tag entschieden wir uns, nach Hause zu fahren. Es wurde alles in die Wege geleitet und so fuhr ich unser Auto mit Lara und dem Arzt vom Palliativteam nach Hause.

Beim Aussteigen fragte er mich, ob sie immer so ruhig schlafen würde.

Wir nahmen sie aus dem Auto und mein Herz sagte mir, dass sie nicht mehr lebte. Mein Mann empfand genauso. Dann trugen wir sie gemeinsam ins Haus.

Der Arzt hörte Lara ab uns sagte: „Ich kann keinen Herzschlag mehr finden.“ Wir nahmen sie in den Arm und weinten gemeinsam um unsere Tochter. Das Palliativteam zog sich einen kurzen Moment zurück.

24 Stunden Zeit zum Abschied nehmen

Das Palliativteam zündete eine Kerze an, und gemeinsam mit ihnen machten wir noch einen Hand- und Fußabdruck. Wir wuschen Lara und zogen ihr neue Sachen an.

Die nächsten 24 Stunden verbrachten wir gemeinsam mit Lara.

Für andere gut zu wissen: Wir hätten sie 48 Stunden bei uns behalten dürfen. Jedoch war es warm und es wurde nach 24 Stunden Zeit, sie abholen zu lassen. Wir schliefen alle in einem Zimmer und am nächsten Tag gingen wir auch nochmal eine Runde spazieren.

Erst dachte ich, dass ich doch nicht mit einem toten Kind spazieren gehen kann. Aber warum nicht?

Die Psychologin im Krankenhaus meinte, ich soll auf mein Bauchgefühl hören. „Wenn Ihnen eine Idee kommt, und sei sie noch so absurd, machen Sie es!“  Also gingen wir los. Jeder durfte den Kinderwagen noch ein allerletztes Mal schieben.

Im Nachhinein waren die gemeinsame Nacht und der Spaziergang die beiden Dinge, die uns beim Abschied am meisten geholfen haben. Wir wussten, wir hatten alles getan, um ihr und uns einen „schönen“ Abschied zu schenken.

Diese 24 Stunden waren unglaublich wertvoll. Ich ging immer wieder zum Stubenwagen und sprach mit ihr oder schaute sie an. Dabei fiel mir ihr zufriedener Gesichtsausdruck auf. So als wäre sie froh, dass sie nun frei ist.

Unsere Große brauchte uns und wir brauchten sie

Auch als Lara abgeholt wurde, war unsere Große dabei. Wir machten das gemeinsam. Ich legte Lara in den Sarg, die Große legte ihr ein Kuscheltier dazu und Papa trug sie hinunter. Zusammen winkten wir ihr hinterher.

Wichtig dabei finde ich, dass man das Geschwisterkind vorbereitet. Wir haben ausführlich mit ihr darüber gesprochen, was passieren wird. Eine gute Hilfe war dabei das Buch „Abschied, Tod und Trauer“ von der „Wieso? Weshalb? Warum?“-Reihe.

Wir bemalten später gemeinsam den Sarg und erinnerten uns dabei an schöne Momente mit Lara. Die Große malte noch ein Bild, und wir schrieben einen Brief für Lara. Beides war Teil unseres Abschieds bei der Beerdigung.

Unsere Große war generell eine ganz große Stütze in der Trauerzeit. Anfangs um eine Alltagsstruktur beizubehalten. Schließlich brauchte sie Essen und Kleidung. Das Spielen fiel uns sehr schwer. Wir teilten uns ein. Der eine las Geschichten, der andere spielte Brettspiele. Jeder so, wie er konnte. Zwischendurch weinten wir immer mal. Sie kam dann meist gleich und drückte uns.

In der ersten Zeit versuchte unsere Große, ihre Trauer nicht zu zeigen. Sie wollte uns keinen Kummer machen, wollte uns glücklich sehen. Ich finde es dennoch wichtig, dass man Geschwisterkinder miteinbezieht, viel mit ihnen spricht und sie teilhaben lässt. Sie brauchte uns und wir brauchten sie.

Die Geschwister der Sternenkinder erleben genauso wie ihre Eltern eine Extremsituation und müssen lernen, mit dem Verlust umzugehen und ihre Trauer zu verarbeiten. Wie Eltern und Betreuer:innen diese Trauer begleiten können, erfährst du im Artikel: Sternengeschwister – wie hilft man Kindern und Jugendlichen, die um Bruder oder Schwester trauern?

Seit Laras Tod empfinden wir unsere Große noch mehr als ein großes Geschenk und Wunder für uns! Sie ist diejenige, die es schafft, dass wir aufrichtig lachen müssen. Das schafft kein anderer!

Trauerauszeit

Ich habe nach Laras Tod viel recherchiert, wie wir gemeinsam einen Weg für uns finden. Wir beschlossen eine Trauerauszeit zu nehmen. Die Große blieb bei Oma und Opa und wir fuhren zu zweit ein paar Tage weg.

Zeit für uns und unsere Trauer. Zeit für Lara, ohne dass ihre Schwester versorgt werden musste. Wir sprachen viel als Paar miteinander, lasen Trauerbücher, malten, gestalteten Kerzen, schrieben oder schauten uns einen Sonnenuntergang an und waren Lara dabei sehr nahe. Diese Zeit tat uns sehr gut. Und auch unserer Großen tat es gut, mal ohne uns trauern zu können.

Trauern als Paar

Gerade beim Trauern ist es wichtig, den Partner nicht aus den Augen zu verlieren, auch wenn man unterschiedlich trauert. Ich finde es wichtig, im Gespräch zu bleiben und zu versuchen, den anderen im Blick zu behalten.

Heute trauern wir oft getrennt. Aber wir wissen um die Gefühle des Anderen und stehen in regelmäßigem Austausch. Wir entdecken außerdem neue gemeinsame Hobbys, um uns dem Anderen wieder näher zu fühlen.

So trauere ich heute

Inzwischen habe ich gelernt zu akzeptieren, dass es mir hin und wieder ziemlich schlecht geht. In diesen Zeiten male ich (habe ich früher nie gemacht) oder schreibe. Ich habe meinen Blog „Sternenkindliebe“ begonnen, um dieses Tabu-Thema zu brechen und um zu verarbeiten.

Es gibt inzwischen auch mal gute Zeiten. Zeiten, in denen ich dankbar für unsere gemeinsame Zeit sein kann. Und dankbar dafür, wie positiv mich diese schreckliche Erfahrung beeinflusst hat.

Mein Abschlusstipp

„Hören Sie auf ihr Bauchgefühl. Das hat sie bisher immer gut beraten.“ Diesen Satz habe ich immer beherzigt und tue es weiterhin. Ich achte auf mein Bauchgefühl, meine innere Stimme. Was fühlt sich gerade richtig an? Was tut mir gut?

Das wünsche ich allen, die ebenfalls etwas ähnlich Schlimmes erleben mussten. Achtet auf euch und euer Bauchgefühl!

PS: Vielen Dank, liebe Stefanie, dass ich meine Geschichte hier erzählen darf. Während des Schreibens merkt man erstmal, was man schon alles geschafft hat. Danke!

„Lara muss sterben“, sagte sie zu ihrer Großen

Persönliche Worte von mir (Stefanie)

Liebe Stephanie, es ist unfassbar, dass Lara sterben musste. Mein tiefes Mitgefühl für dich und deine Familie. Der Schmerz, der dich jeden Tag an ihr Fehlen erinnert, ist so kurz nach ihrem Tod noch groß. Er wird sich verändern. Ganz bestimmt. Dennoch wird Lara immer eure Tochter bleiben.

Ich freue mich, dass das Erzählen deiner Geschichte dir gezeigt hat, wie stark du bist und ihr als Familie seid. Besonders beeindruckend fand ich dabei, wie du deiner Großen anschaulich verdeutlicht hast, warum ihre kleine Schwester Lara sterben musste. Das stärkt deine Große fürs Leben, weil sie keine Berührungsängste mit dem Thema Tod haben wird.

Und HEUTE wird deine Große wieder ein Jahr älter: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Habt einen schönen Tag. Ich bin mir sicher, Lara feiert mit. Dort, wo sie gerade ist.

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