„Hast du schon gehört, ihr Sohn ist letzte Woche gestorben“, flüsterte eine Mutter zur anderen, als ich mit meiner Tochter im Kindergarten den Flur entlang lief. Reagiert habe ich nicht und doch haben mir Situationen wie diese zu wichtigen Erkenntnissen nach dem Verlust verholfen.
Der Tod verändert alles und bringt doch Erkenntnisse
Der Tod des eigenen Kindes ist unvorstellbar grausam. Wut, Ohnmacht oder Überforderung sind ganz normale Folgen. Bei Nicht-Betroffenen reicht die Spanne von Neugier über Hilfslosigkeit bis hin zur eigenen indirekten Betroffenheit. In Sachen Verlustverständnis und Unterstützung im Trauerfall hat unsere Gesellschaft gegenüber anderen Kulturen einiges an Nachholbedarf. Das ist zumindest meine persönliche Erfahrung.
Fakt ist, dass verwaiste Eltern, Geschwister aber auch nahe Angehörige nach dem Verlust eines geliebten Familienmitgliedes in eine tiefe Krise geraten können. Diese Krise gilt es durchzustehen und zu überwinden. Nur dann gewinnt man Erkenntnisse, die wichtig für das weitere Leben sind.
Das sind meine 5 persönlichen Erkenntnisse, die ich nach dem Verlust meines Sohnes gewonnen habe. Sie können stark von deinen Erkenntnissen abweichen. Aber vielleicht haben wir doch etwas gemeinsam!?
Erkenntnis 1: Der Tod gehört zum Leben dazu
Als uns die Schreckensnachricht erreichte, dass unser Sohn sterben wird, verlor ich das Vertrauen. Vertrauen in die Medizin, Vertrauen in mich, Vertrauen in Welt. Es ging doch bergauf. Warum muss er jetzt sterben?
Stundenlang hielt ich ihn in meinem Armen. Ich hätte dringend auf die Toilette gehen müssen, ich hätte dringend mal meine Armen ausschütteln müssen (sie kribbelten schon), ich hätte wahrscheinlich auch irgendwann essen sollen und meine Brust… die spannte immer mehr, weil ich die Milch hätte abpumen müssen. Doch ich tat nichts von alledem. Ich behielt einfach meinen Sohn im Arm. Das war das einzig Richtige, was ich meiner Meinung nach tun konnte. Es waren schließlich meine letzten Stunden mit ihm. Lebend!
Den Tod direkt vor Augen zu haben und meinen Sohn beim Sterben zu begleiten, das hat mich geprägt. Ich trat dem Tod nicht nur gegenüber, so wie ich es bei meinem Vater 15 Jahre früher getan habe, ich sah dem Tod zu. Solange bis er gewonnen hatte und die Nulllinie erschien.
In diesem Moment stand für mich fest: Jetzt muss ich lernen, ohne meinen Sohn zu leben. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das schaffen sollte.
Der Tod gehört zum Leben dazu, ob wir wollen oder nicht. Es ist ein Privileg, selbst leben zu dürfen, denn es kann jederzeit vorbei sein.
Erkenntnis 2: Gib den Menschen, die du liebst, immer einen Abschiedskuss
„Gib‘ der Omi zum Abschied noch einen Kuss“, war früher immer der letzte Satz, bevor ich ins Auto stieg. Was habe ich es gehasst! Doch als ich im Oktober 2017 meine Omi besuchte, gab ich ihr gleich mehrere Abschiedsküsse. Irgendwie hatte ich im Gefühl, dass ich sie das letzte Mal sah.
Ich war schwanger mit meinem zweiten Sohn. Gerade erst in der 8. Schwangerschaftswoche. Das Urvertrauen hatte ich, so kurz nach dem Verlust meines ersten Sohnes, noch nicht zurück. Gerade deswegen war nichts sicher. Nicht die Schwangerschaft und noch viel weniger die Genesung meiner Omi, die einen Monat zuvor einen Schlaganfall erlitt.
Mir war klar: Hält sie nicht durch, bis das Baby möglichweise geboren wird, sehe ich sie nicht wieder. Denn in den verbleibenden sieben Schwangerschaftsmonaten würde ich mich nicht weiter als 20km von der Klinik entfernen. Und schon gar nicht erneut 650km. Zu groß war die Angst, dass es im Notfall zu lange dauern könnte.
Und so kam es auch. Einen Monat vor der Geburt meines zweiten Sohnes starb meine Omi. Ich war froh, dass ich ihr von ihm erzählt hatte, ihr Auf Wiedersehen sagen konnte und vor allem ihr einen Abschiedskuss gegeben hatte. Das machte mir den Abschied leichter, denn ich hatte nichts zu bereuen. So wie es oftmals der Fall ist:
„An Gräbern werden die bittersten Tränen über ungesagte Worte und unterbliebene Taten vergossen.“
Harriet Beecher Stowe, 1811 – 1896, amerikanische Schriftstellerin
Wenn ich heute das Grab meiner Omi besuche, lächle ich ihrem Foto entgegen, erzähle von unserem Leben hier unten und frage, ob sie eine schöne Zeit mit meinem verstorbenen Sohn dort oben hat.
Erkenntnis 3: Pläne dienen nur der Orientierung
Das Leben ist nicht planbar. Das wurde mir bereits bewusst, als ich jahrelang unerfüllt kinderlos war.
Ich wollte immer drei Kinder. Am liebsten vor dem 30. Geburtstag. Aber wenn das dritte Kind erst mit Anfang 30 käme, wäre das noch in Ordnung gewesen. Doch an meinem 30. Geburtstag hatte ich nicht ein lebendes Kind an der Hand. Ich war zwar schwanger. Mal wieder. Jedoch endete diese Schwangerschaft ebenfalls glücklos.
Mit 31 Jahren durfte ich mein erstes lebendes Baby in die Arme schließen. Ich war überglücklich! Mit 34 begleitete ich dann meinen Sohn in den Tod.
Natürlich kann man versuchen, sein Leben in einem Excel Sheet zu planen, doch es ist nur eine Orientierung dessen, was sein könnte.
Zu jedem Zeitpunkt kann etwas Unvorhergesehenes passieren. Eine spontane Schwangerschaft, eine plötzliche Trennung, ein unübertreffliches Jobangebot oder der Tod. Das Schicksal hat immer das letzte Wort.
Erkenntnis 4: Nimm Schicksalsschläge an, auch einen Verlust
Im Leben geschehen Dinge, die uns nicht gefallen. Weil sie nicht unserer Erwartung entsprechen. Wir Sternenkind-Eltern wurden wohl mit der härtesten Form des „Nicht-Gefallens“ konfrontiert. Es ist ein nahezu lächerlich milder Ausdruck für das Leid, dass uns widererfahren ist.
Ich konnte lange Zeit den Tod meines Sohnes nicht akzeptieren. Ich verwendete Unmengen an Kraft (obwohl ich kaum welche hatte) mit Grübeleien und Warum-Schleifen. Irgendwann nahm ich seinen Tod an.
Das hatte nichts mit aufgeben zu tun. Es fühlte sich auch nicht wie eine Niederlage an, denn ich konnte es nicht ändern: Mein Sohn war tot. Ich habe ihn beim Sterben begleitet. Dennoch brauchte ich einige Wochen, um das zu verstehen.
Diese Wochen waren geprägt von Hilflosigkeit, Verzweiflung und täglichen Ohnmachtsgefühlen. Es wurde erst besser, als ich seinen Tod akzeptierte. Denn plötzlich fand ich wieder den Mut und die Motivation, mein Leben in die Hand zu nehmen und meinen neuen Alltag zu üben. Obwohl nun alles anders war, als ich es mir vorgestellt hatte.
Erkenntnis 5: Das Leben ist trotz eines Verlusts schön
Manchmal schätzt man sein Leben erst, wenn man den Tod vor Augen hatte.
Klingt krass? Zugegeben, es ist krass. Und in den ersten Monaten nach dem Verlust meines Sohnes wäre mir diese Erkenntnis nie in den Sinn gekommen. Zu tief saß der Schmerz, zu groß war die Trauer.
Ich habe so viele Kinderwunsch-Behandlungen über mich ergehen lassen, habe alles versucht, um den Traum einer eigener Familie wahrwerden zu lassen. Und als wir endlich am Ziel ankamen, zu viert beieinandersaßen, mussten wir den Kleinsten wieder gehen lassen. Da empfindet man nichts mehr als schön.
Ich stellte mich und mein Leben mehrmals in Frage. Wozu das Ganze? Was soll ich daraus bitte lernen? Und wie soll es denn jetzt weitergehen? Doch ich habe gekämpft. Für mich und für meine Familie.
Heute schätze ich mein Leben mehr als je zuvor. Es ist schön und ich bin für jeden Tag dankbar, den ich mit meiner Familie verbringen darf. Selbst für die wunderschöne Schwangerschaft mit meinem verstorbenen Sohn und seine fünf Lebenstage bin ich dankbar. Diese Erinnerungen kann mir niemand wegnehmen.
„Es ist besser, zu genießen und zu bereuen, als zu bereuen, dass man nicht genossen hat.“
Giovanni Boccaccio, 1313 – 1375, italienischer Schriftsteller
Also, genieße ich mein Leben, lebe intensiver als vorher und sauge jeden Marmeladen-Moment auf. Und ja, ich lache auch aus tiefstem Herzen. Das dürfen Sterneneltern! 😉
Schätzt du dein Leben heute auch mehr? Welche Erkenntnis(se) hast du nach deinem Verlust gewonnen. Lass es mich gern in den Kommentaren wissen. 👇
Vielen Dank für Deinen sehr offenen Umgang mit dem Thema Sternenkinder und Deinen großen Verlusten.
Ich habe in meinem Umfeld gibt es mehrere Sternenkinder. Und es ist erschreckend, wie wir den Tod verdrängen und so schnell zum Tagesgeschehen übergehen.
Ich wünsche Dir viel Reichweite und Kommentare!
Liebe Gesa,
du hast völlig Recht. Es ist wirklich erschreckend. Die Betroffenen leiden und die Menschen in der Umgebung tun oft so, als wäre nichts passiert, nur um nichts falsch zu machen. Doch dieses Verdrängen ist das Schlimmste, was man machen kann. Genau deswegen kämpfe ich für Aufklärung. Nur so können wir uns gegenseitig unterstützen.
Viele Grüße
Stefanie